Ich erinnere mich an ein Coaching mit einer Führungskraft. Sie saß vor mir, die Schultern hochgezogen, der Blick nach innen gerichtet. „Ich hab alles gemacht, was im Buch steht. Gedanken beobachten. Reframing. Atemtechniken. Aber mein Herz rast trotzdem.“

Das war der Moment, in dem ich begann, das Lazarus-Modell nicht mehr nur als Klassiker zu sehen – sondern als Einladung zur kritischen Auseinandersetzung. Denn so hilfreich es ist: Es greift oft zu kurz.


Was ist das Lazarus-Modell eigentlich?

Das transaktionale Stressmodell von Richard Lazarus beschreibt, wie Stress durch die subjektive Bewertung einer Situation entsteht – und wie diese durch unsere Ressourcen, Erfahrungen und inneren Dialoge beeinflusst wird. Es unterscheidet drei Phasen:

  1. Primärbewertung: Ist die Situation bedrohlich, herausfordernd oder irrelevant?
  2. Sekundärbewertung: Habe ich genug Ressourcen, damit umzugehen?
  3. Bewältigung (Coping): Wie reagiere ich? Problemorientiert oder emotionsorientiert?

Ein Beispiel: Du bekommst kurzfristig eine Einladung, vor 200 Menschen zu sprechen.

  • Primär: „Gefährlich! Ich werde mich blamieren.“
  • Sekundär: „Ich hab keine Rede vorbereitet.“
  • Coping: Du sagst ab (Vermeidung) oder überredest dich (positive Selbstinstruktion).

Klingt nachvollziehbar. Aber hier liegt das Problem:


Kritikpunkt 1: Zu viel Kopf, zu wenig Körper

Das Modell fokussiert auf Kognition. Aber Stress ist nicht nur ein Gedanke. Stress ist auch:

  • ein pochendes Herz
  • ein zusammengezogener Magen
  • ein inneres Zittern

Emotionale und körperliche Reaktionen tauchen nicht nach, sondern oft vor der Bewertung auf. Die Neurozeption (Porges) zeigt: Unser Nervensystem scannt Gefahren unbewusst und sekundenschnell, bevor unser Verstand eingreift.

Beispiel: Du betrittst einen Raum voller Menschen. Noch bevor du denkst „Mag man mich hier?“, ist dein Körper vielleicht schon im Fluchtmodus.

Das Modell blendet diese Frühstufen aus.


Kritikpunkt 2: Der soziale Kontext fehlt

Stress ist nie rein individuell. Unsere Bewertungen entstehen in Beziehung:

  • zu Normen („Ich muss stark sein“)
  • zu anderen Menschen („Ich darf keine Schwäche zeigen“)
  • zu Systemen („Mein Team verlässt sich auf mich“)

Beispiel: Zwei Kolleginnen erhalten die gleiche Kritik vom Chef. Die eine nimmt es sportlich. Die andere zerbricht. Warum? Vielleicht, weil sie Bindungsverletzungen erlebt hat. Oder weil in ihrem kulturellen Kontext Hierarchien stark angstbesetzt sind.

Das Modell sagt: „Bewertungssache.“ Die Praxis sagt: „Kontextsache.“


Kritikpunkt 3: Keine Unterscheidung von akuter vs. chronischer Belastung

Das Modell funktioniert gut bei Einzelereignissen. Aber was ist mit chronischem Stress? Mit Daueranspannung? Mit erlernter Hilflosigkeit?

Beispiel: Eine Pflegekraft, die seit Jahren unterbesetzt arbeitet, kann nicht jeden Tag neu bewerten: „Heute sehe ich das als Herausforderung!“ Ihr System ist erschöpft. Hier reicht Reframing nicht.


Kritikpunkt 4: Unklare Messbarkeit

Die Bewertung ist subjektiv. Aber wie misst man das? Wie vergleicht man die Stressreaktion zweier Menschen auf dieselbe Situation? Studien dazu schwanken – auch, weil das Modell schwer operationalisierbar ist.


Und jetzt? Eine Einladung zum Weiterdenken

Ich sage nicht: Weg mit dem Modell. Es hat geholfen, Stress als aktiven Prozess zu verstehen – nicht als Automatismus.

Aber ich sage: Lasst es uns ergänzen.

  • Um die Sprache des Nervensystems
  • Um die Rolle von Beziehung, Biografie und Kultur
  • Um das Verstummen, wenn der Körper nicht mehr kann

Fazit: Lass uns Stress nicht nur bewerten, sondern verkörpern

Wenn du beim nächsten Mal gestresst bist: Frag dich nicht nur „Wie bewerte ich das?“, sondern auch:

  • Wo in meinem Körper sitzt dieser Stress?
  • Was braucht mein Nervensystem?
  • Welche Beziehung, welches System verstärkt das?

Denn manchmal beginnt die Lösung nicht im Denken. Sondern im Spüren.

Eine Einladung: Schreib mir, wenn du deine Stressmuster besser verstehen willst. Ich begleite dich gern.

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